EPILOG EIN JAHR SPÄTER
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Richard Nordeschenko schielte auf seine Karten hinab – Herz-König und Herz-Zehn. Er beschloss, sie auf der Hand zu behalten. Vor ihm lagen mehrere Stapel Chips. Auf diesen Abend hatte er sich schon lange gefreut – ihm ging es richtig gut.
Der Amerikaner hatte zu seinem Wort gestanden. Nichts war nach der Entführung seines Sohnes passiert. Keine Polizei. Kein Mossad. Kein Interpol. Niemand hatte ihn mit Cavellos Flucht in Verbindung gebracht. Oder mit Reichardts Tod in Haifa. Er hatte sein Geschäft dichtgemacht und alle Kontakte zu seinem früheren Netzwerk abgebrochen.
Ein Jahr später beschloss er, dass keine Gefahr mehr bestand, wenn er wieder anfing zu arbeiten. Er hatte wieder einen Auftrag in Amerika angenommen. Er betraf einige verzweifelte Männer aus dem Iran, und er war gut – und im Voraus – bezahlt worden.
Derzeit lief er unter dem Namen Alex Kristancic herum, ein Geschäftsmann aus Slowenien. Laut Visum war er hier, um Wein auf einer Messe im Javits Center zu verkaufen.
Den ganzen Abend über war ihm das Glück wohlgesonnen. Sein Stapel Chips war ständig gewachsen, und er zählte sein Geld, das er gewonnen hatte, schon gar nicht mehr. Zwei Wodka hatte er sich gegönnt.
Ein- oder zweimal hatte sein Blick den einer Frau an einem Tisch ihm gegenüber gekreuzt. Sie trug ein tief ausgeschnittenes Kleid, ihr dunkles Haar hatte sie zu einer eleganten Frisur hochgesteckt. Sie schien alleine hier zu sein, und sie spielte an einem Tisch für kleine Einsätze.
Mit den Flop-Karten wurden wieder ein König und eine Zehn aufgedeckt, die hervorragend zu seiner Hand passten. Das Glück blieb ihm weiterhin hold. Gut war: Auch ein anderer Spieler hielt bis zum Ende durch. Nordeschenko drehte seine Karten um. Der andere, übertrumpft mit zwei niedrigen Paaren, stöhnte. Die Götter meinten es gut mit Nordeschenko.
»Das war’s dann für mich«, verkündete er und schichtete seine Chips zu kleinen, gleichmäßigen Stapeln auf. Er schlenderte an die Bar und bestellte noch einen Wodka. Es ging ihm wirklich gut – und noch besser, als die Frau auf den leeren Hocker neben ihn rutschte.
»Ein richtig guter Abend für Sie«, meinte sie. »Ist nicht nur mir aufgefallen.« Ihr langer, sehr schöner Hals kam in dem rückenfreien Kleid gut zur Geltung. Sie sah sexy aus, und sie verwendete ein erlesenes Parfüm.
»Ja. Die Poker-Götter haben heute Abend die
Hand über mich gehalten. Und Sie? Ich hoffe, Sie hatten ebensolches
Glück.«
»Gerade so viel, um mir einen Gimlet und ein Taxi nach Hause
leisten zu können. Ich traue den Göttern wohl nicht so sehr wie
Sie.«
»Dann darf ich Sie vielleicht einladen.« Lächelnd gab Nordeschenko
dem Barmann ein Zeichen. »Dann hätten Sie Ihren Gewinn
verdoppelt.«
Er stellte sich als Alex vor. Sie sagte, sie hieße Claire. Sie
redeten über Poker, über Wein und über New York und darüber, dass
sie im Immobiliengeschäft arbeitete. Sie bestellten noch eine
Runde. Ein paar Mal berührte Claire seinen Arm. Nach einer Weile
tat er dasselbe bei ihr. Ihre Haut war weich und glatt, ihre Augen
verwirrend schön.
Schließlich war es Mitternacht durch. Die Kartentische wurden
leerer. Er wollte Claire gerade vorschlagen, noch woanders etwas zu
trinken, als sie wieder ihre Hand auf seinen Arm legte und sich nah
zu ihm herüberbeugte. Ihr frischer, vom Cocktail süßer Atem war
angenehm.
»Sie hatten bereits einen guten Abend, Alex. Möchten Sie, dass er
noch besser wird?«
Ein Gefühl der Zufriedenheit überkam Nordeschenko. Er war bereits
auf die Idee gekommen, dass diese Frau eine Prostituierte sein
könnte – na und? Sie war höchst attraktiv, und sie schien bereit zu
sein. Außerdem hatte er an diesem Abend genügend Geld gewonnen, um
mehrere Frauen bezahlen zu können.
»Es wäre mir eine Freude.« Nordeschenko blickte in ihre hübschen,
braunen Augen und warf ein paar Scheine auf die Theke. Sie hängte
sich ihre Tasche um und rutschte, von ihm gestützt, vom Hocker.
»Auf geht’s zum Rock ’n’ Roll«, sagte er.
Claire grinste überrascht.
»Das sagt mein Sohn immer. Er schaut amerikanisches Fernsehen«,
erklärte Nordeschenko.
»Sie haben einen Sohn?« Es schien sie nicht zu stören. Eigentlich –
wenn er ihren Ausdruck richtig deutete – schien er für sie dadurch
noch sympathischer zu werden.
»Ja«, bestätigte Nordeschenko. »Er ist dreizehn.«
»Ach ja?« Ihr Blick schien etwas von ihrem Glanz zu verlieren. »Ich
hatte auch einmal einen Sohn.«